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Hermeneutischer Zirkel: Der hermeneutische Zirkel ist ein Interpretationsprozess, in dem das Ganze und seine Teile sich gegenseitig erhellen. Es handelt sich um einen rekursiven Prozess, bei dem der Ausleger zwischen dem gesamten Text und seinen einzelnen Teilen hin und her geht, um zu einem umfassenden Verständnis zu gelangen. Siehe auch Hermeneutik.

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Anmerkung: Die obigen Begriffscharakterisierungen verstehen sich weder als Definitionen noch als erschöpfende Problemdarstellungen. Sie sollen lediglich den Zugang zu den unten angefügten Quellen erleichtern. - Lexikon der Argumente.

 
Autor Begriff Zusammenfassung/Zitate Quellen

Friedrich Schleiermacher über Hermeneutischer Zirkel – Lexikon der Argumente

Gadamer I 193
Hermeneutischer Zirkel/Schleiermacher/Gadamer: Schleiermacher folgt Friedrich Ast und der gesamten hermeneutisch—rhetorischen Tradition, wenn er als einen wesentlichen Grundzug des Verstehens anerkennt, dass der Sinn des einzelnen sich immer nur aus dem Zusammenhang, mithin letztlich dem
Gadamer I 194
Ganzen ergibt. Dieser Satz gilt in selbstverständlicher Weise für das grammatische Verständnis jeden Satzes bis zu der Einordnung desselben in den Zusammenhang des Ganzen eines Literatur-Werkes ja, bis zum Ganzen der Literatur bzw. der betreffenden literarischen Gattung Schleiermacher wendet ihn nun aber auf das psychologische Verständnis an, das ein jedes Gedankengebilde als einen Lebensmoment im Totalzusammenhang dieses Menschen verstehen muss.
Dabei war von jeher klar, dass logisch gesehen hier ein Zirkel vorliegt, sofern das Ganze, von dem aus das einzelne verstanden werden soll, ja nicht vor dem einzelnen gegeben ist - es sei denn in der Weise eines dogmatischen Kanons (wie ihn das katholische und wie wir sahen, in gewissem Grade
auch das reformatorische Schriftverständnjs leitet), oder eines ihm analogen Vorbegriffs vom Geiste einer Zeit (wie Ast den Geist des Altertums in der Weise der Ahndung voraussetzt).
Lösung: Schleiermacher aber erklärt, dass solche dogmatische Leitfäden keine vorgängige Geltung beanspruchen können und daher nur relative Beschränkungen des Zirkels sind. Grundsätzlich gesehen ist Verstehen immer ein Sichbewegen in solchem Kreise, weshalb die wiederholte Rückkehr von dem Ganzen zu den Teilen und umgekehrt wesentlich ist. Dazu kommt, dass dieser Kreis sich ständig erweitert, indem der Begriff des Ganzen ein relativer ist und die Einordnung in immer größere Zusammenhänge immer auch das Verständnis des einzelnen berührt.

Gadamer I 296
Hermeneutischer Zirkel/Schleiermacher/Gadamer: [Schleiermacher hat den] hermeneutischen Zirkel von Teil und Ganzem sowohl nach seiner objektiven wie nach seiner subjektiven Seite hin
differenziert. Wie das einzelne Wort in den Zusammenhang des Satzes, so gehört der einzelne Text in den Zusammenhang des Werkes seines Schriftstellers und dieses in das Ganze der betreffenden literarischen Gattung bzw. der Literatur.
Auf der anderen Seite gehört aber der gleiche Text als Manifestation eins schöpferischen Augenblicks in das Ganze des Seelenlebens seines Autors. Jeweils erst in solchem Ganzem objektiver und subjektiver Art kann sich Verstehen vollenden.
Dilthey: Im Anschluss an diese Theorie spricht dann Dilthey von „Struktur“ und von der „Zentrierung in einem Mittelpunkt“, aus der sich das Verständnis des Ganzen ergibt. Er überträgt damit auf die geschichtliche Welt, was von jeher ein Grundsatz
Gadamer I 297
aller Interpretation von Texten ist: dass man einen Text aus sich selbst verstehen muss.
GadamerVsSchleiermacher: Es fragt sich aber, ob die Zirkelbewegung des Verstehens so angemessen verstanden ist. Hier ist auf das Ergebnis unserer Analyse der Schleiermacherschen Hermeneutik zurückzugreifen. (>Hermeneutik/Schleiermacher
).
Was Schleiermacher als subjektive Interpretation entwickelt hat, darf wohl ganz beiseite gesetzt werden.
1. GadamerVsSchleiermacher: Wenn wir einen Text zu verstehen suchen, versetzen wir uns nicht in die seelische Verfassung des Autors, sondern wenn man schon von Sichversetzen sprechen will, so versetzen wir uns in die Perspektive, unter der der andere seine Meinung gewonnen hat. Das heißt aber nichts anderes, als dass wir das sachliche Recht dessen, was der andere sagt, gelten zu lassen suchen. Wir werden sogar, wenn wir verstehen wollen, seine Argumente noch zu verstärken trachten.
2. GadamerVsSchleiermacher: (...) auch die objektive Seite dieses Zirkels, wie sie Schleiermacher
beschreibt, trifft nicht den Kern der Sache (..): Das Ziel aller Verständigung und alles Verstehens ist das Einverständnis in der Sache. So hat die Hermeneutik von jeher die Aufgabe, ausbleibendes oder gestörtes Einverständnis herzustellen. Die Geschichte der Hermeneutik kann das
bestätigen, wenn man z. B. an Augustin denkt, wo das Alte Testament mit der christlichen Botschaft vermittelt werden soll(1), oder an den frühen Protestantismus, dem das gleiche Problem gestellt war(2) oder endlich an das Zeitalter der Aufklärung, wo es freilich einem Verzicht auf Einverständnis nahe kommt, wenn der "vollkommene Verstand" eines Textes nur auf dem Wege historischer Interpretation erreicht werden soll. Es ist nun etwas qualitativ Neues, wenn die Romantik und Schleiermacher ein geschichtliches Bewusstsein von universalem Umfang begründen, indem sie die verbindliche Gestalt der Tradition, aus der sie kommen und in der sie stehen, nicht mehr als feste Grundlage für alle hermeneutische Bemühung gelten lassen.
Gadamer I 298
Schleiermacher (...) gelingt es (...) den Einklang mit dem Objektivitätsideal der Naturwissenschaften herzustellen, aber nur dadurch, dass [er] darauf verzichte[t], die Konkretion des historischen Bewusstseins in der hermeneutischen Theorie zur Geltung zu bringen.
HeideggerVsSchleiermacher/Gadamer: Heideggers Beschreibung und existenziale Begründung des hermeneutischen Zirkels bedeutet demgegenüber eine entscheidende Wendung. >Hermeneutischer Zirkel/Heidegger.

1. Vgl. dazu G. Ripanti, Agostino teoretico del' interpretazione. Brescia 1980
2. Vgl. M. Flacius; Clavis Scripturae sacrae seu de Sermone sacrarum literarum, lib.II, 1676

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Zeichenerklärung: Römische Ziffern geben die Quelle an, arabische Ziffern die Seitenzahl. Die entsprechenden Titel sind rechts unter Metadaten angegeben. ((s)…): Kommentar des Einsenders. Übersetzungen: Lexikon der Argumente
Der Hinweis [Begriff/Autor], [Autor1]Vs[Autor2] bzw. [Autor]Vs[Begriff] bzw. "Problem:"/"Lösung", "alt:"/"neu:" und "These:" ist eine Hinzufügung des Lexikons der Argumente.
Schleiermacher, Friedrich

Gadamer I
Hans-Georg Gadamer
Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik 7. durchgesehene Auflage Tübingen 1960/2010

Gadamer II
H. G. Gadamer
Die Aktualität des Schönen: Kunst als Spiel, Symbol und Fest Stuttgart 1977

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